So auch die Geschichte der britischen Mutter Callie Blackwell. Sie gab ihrem sterbenden Sohn Deryn heimlich Cannabisöl. Bereits 2010 an Leukämie erkrankt und kurz darauf an einem sehr seltenen Langerhans-Zell-Sarkom, hatte er unzählige Chemotherapien, Bestrahlungen und Knochenmarktransplantationen hinter sich gebracht, ohne Hoffnung auf eine Verbesserung seines lebensbedrohlichen Zustands. Nichts half, nur Antibiotika und starke Schmerzmittel hielten den Jungen weiter am Leben. Die Ärzte gaben ihm nur noch wenige Tage. Aber seine Mutter wollte sich mit dieser niederschmetternden Prognose nicht abfinden. Sie kämpfte „wie eine Löwin“ um das Leben ihres Sohnes, auch auf die Gefahr hin, dass sie sich damit strafbar machte. Schon kurz nach der Einnahme des Cannabisöls ging es Deryn besser. Heute ist er ein gesunder und lebensfroher junger Mann.
Cannabis gehört zur Gattung der Hanfgewächse und ist seit der Antike bekannt. Als eine der ältesten Nutz- und Zierpflanzen wurde Hanf über Jahrhunderte vielfältig eingesetzt. So machte man Seile aus den Fasern der Stängel, Speiseöl aus den Samen und ätherisches Öl aus den Destillaten von Blüten und Blättern. Im antiken China wurde Cannabis bei Fieber und gegen Konzentrationsstörungen eingesetzt. In Europa des 19. Jahrhunderts wendeten Ärzte Cannabis bei Schmerzen, Schlafstörungen, Depression oder Appetitlosigkeit an. Auch heute noch ist Hanf ein wichtiger nachwachsender Rohstoff für die Textilindustrie und die Bauwirtschaft. Aber auch für den Arzneimittelbereich gewinnt Cannabis zunehmend an Bedeutung, denn aus den getrockneten Blättern und Blüten der Hanfpflanze lässt sich medizinisches Cannabis herstellen. Allerdings bildet es auch die Basis für Drogen, wie Haschisch und Marihuana.
Was sollten schwerkranke Krebspatienten im Vorfeld beachten, wenn sie mit dem Gedanken spielen, Cannabis einzunehmen? Antworten gibt Wolfgang Doerfler, Facharzt für Neurologie und Arzt für Naturheilverfahren am Tumorzentrum München. Er leitet seit 2016 die Beratungsstelle für Komplementärmedizin und Naturheilkunde am Tumorzentrum München in Kooperation mit der Bayerischen Krebsgesellschaft und dem CCC München. Im Rahmen seiner Arbeit berät er Krebspatienten und Angehörige zu allen Fragen aus den Bereichen der Komplementärmedizin und Naturheilkunde.
Wenn Wolfgang Doerfler von Cannabis spricht, meint er medizinisches Cannabis, was nichts mit irgendwelchen Kräutermischungen, Hanfkeksen oder Tees aus dem Internet, gemein hat. Seine Wirkungsweise erklärt er wie folgt: „Medizinalhanf (medizinisch Cannabis sativa L.) ist eine einjährige, im Sommer blühende Kurztagpflanze. Die Hanfblüten enthalten über 100 verschiedene Inhaltstoffe, sogenannte Cannabinoide. Die wichtigsten heißen Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). THC und CBD verbinden sich über bestimmte „Andockstellen“ (sogenannte Rezeptoren) mit Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark oder mit Zellen der Immunabwehr, etwa in der Milz. Je nach Zelle bzw. Organ wirken sie entspannend, entzündungshemmend, immunmodulierend, schmerzlindernd oder reduzieren die Übelkeit nach einer Chemotherapie. Dabei hat ausschließlich THC eine psychoaktive, euphorisierende, aber eben manchmal auch abhängigkeitsfördernde Wirkung“, erklärt Wolfgang Doerfler.
Aufgrund dieser Eigenschaften wird medizinisches Cannabis heute in der Onkologie hauptsächlich als begleitende Behandlungsmethode während einer Chemotherapie oder bei chronischen Schmerzen eingesetzt: „Krebspatienten, die unter Nebenwirkungen der Therapie leiden, profitieren manchmal von Cannabis. Vor allem Beschwerden wie Übelkeit und Erbrechen, Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust aber auch Angst – oder Unruhezustände können gelindert werden“, so Doerfler.
Wie sieht es jedoch mit der unmittelbaren Wirkung von Cannabis bei einer Krebserkrankung aus? Können die Erfahrungsberichte von Patienten, die von einer Linderung ihrer Beschwerden oder sogar Heilung sprachen, schon durch Studien belegt werden?
In Labor- und Tierversuchen fanden Wissenschaftler erste Hinweise darauf, dass Cannabis auch eine hemmende Wirkung auf bestimmte Tumorzellen (z. B. von Brustkrebs, Lungenkrebs, Hautkrebs, Prostatakrebs, Leberkrebs) hat. Auch in der klinischen Forschung gibt es erste Ergebnisse: So wurde 2017 eine kleine Gruppe von Patienten mit einem fortgeschrittenen Gehirntumor mit Cannabis behandelt. Sie hatten gegenüber der Kontrollgruppe (Placebo) nach einem Jahr eine etwa 30 Prozent höhere Überlebensrate.
Wolfgang Doerfler sieht darin erste positive Ansätze. Die Wirksamkeit von Cannabis auf Tumore muss aber noch weiter erforscht werden: „Es häufen sich Hinweise, dass die Cannabinoide THC und CBD eine unmittelbar tumorzellhemmende Wirkung haben. Diese Erkenntnisse basieren zunächst fast ausschließlich auf Zellstudien und Tierversuchen. Die bisher einzigen Studien direkt am Menschen mit fortgeschrittenem Gehirntumor waren vielversprechend. Die Studien selbst sind jedoch noch zu klein, um allgemein gültige Rückschlüsse zu ziehen“.
Deshalb sieht der Experte vom Tumorzentrum München bislang keine zuverlässige Datenlage, die eine unmittelbar tumorhemmende Wirkung belegt. Und er betont ausdrücklich: „Patienten sollten Cannabis auf keinem Fall als eine Art ´grüne Chemotherapie` betrachten! Jede Therapie mit Cannabis muss ärztlich verordnet und angeleitet werden!“ Doerfler warnt ebenso davor, Cannabis auf eigene Faust aus dem Internet zu beziehen: „Cannabis aus unzuverlässiger Quelle kann durch Pestizide, Schimmelpilze, Blei und andere Schadstoffe - aber auch durch Beimengung unzulässiger Arzneistoffe - stark verunreinigt sein. Sicherer ist es, geprüftes, medizinisches Cannabis aus der Apotheke zu beziehen. Voraussetzung ist zudem, dass Patienten offen mit ihrem behandelnden Onkologen über Cannabis reden. Gemeinsam werden sie die beste Behandlungsstrategie finden“, so der Experte.
Denn obwohl medizinisches Cannabis allgemein recht gut vertragen wird, sind die möglichen Nebenwirkungen nicht zu unterschätzen. „Die Einnahme von Cannabis kann u.a. Verstopfung, Erbrechen, Schwindel, Übelkeit, Herzrasen oder Kopfschmerzen hervorrufen. Deshalb ist für eine möglichst gute Verträglichkeit ein vorsichtiges ‚Einschleichen‘ der Therapie ausschlaggebend. Da THC-haltiges Cannabis bei längerer Einnahme zu Gewöhnungseffekten führen kann, sollte möglichst vor Beginn der Therapie eine zeitlich begrenzte Behandlungsdauer vereinbart werden“, betont Doerfler. Liegen Nebenwirkungen der Tumortherapie vor, empfiehlt der Facharzt, immer erst etablierte Therapien sowie anerkannte komplementärmedizinische Verfahren anzuwenden. Sollten diese nicht durchführbar sein oder versagen, haben Krebspatienten bei schlechter Lebensqualität aufgrund von Schmerzen, starker Übelkeit oder Appetitlosigkeit gute Chancen, Cannabis auf Rezept zu erhalten.
In Deutschland reguliert die Cannabisagentur des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) den Import und die Vergabe von Cannabis. Damit schwerkranke Patienten ohne Angst vor Strafverfolgung Cannabis in Anspruch nehmen können, ist die Verschreibungsmöglichkeit von Cannabis nach §31 des 5. Buches Sozialgesetzbuch gesetzlich geregelt. Cannabis kann von Ärzten auf Betäubungsmittelrezept in Form von Mundsprays zum Inhalieren, als Öl in Form von Kapseln oder als Blüten verschrieben werden. Die Verschreibungshöchstmenge pro Monat liegt derzeit bei max. 1.000 mg Cannabisextrakt oder 100.000 mg Cannabisblüten. „Voraussetzung für Cannabis auf Rezept ist eine schwerwiegende Erkrankung, für die keine anerkannte Standardtherapie zur Verfügung steht bzw. angewendet werden kann und die Aussicht auf eine baldige, spürbare positive Wirkung hat. In diesem Fall können gesetzlich versicherte Patienten die Behandlung erstattet bekommen. Sie sollten die Kostenübernahme aber unbedingt vorher mit der Krankenkasse abklären, denn Cannabisblüten aus der Apotheke sind mit etwa 120 Euro pro 5 g nicht gerade günstig für Selbstzahler“, erklärt Doerfler.
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